Autor: Martha Kniewasser-Alber (Seite 1 von 23)

24. Dezember 2022

Mein schönstes Gedicht?
Ich schrieb es nicht.
Aus tiefsten Tiefen stieg es.
Ich schwieg es.

Mascha Kaléko

Engelwärts

23. Dezember 2022

Der Engel in dir
freut sich über dein
Licht
weint über deine Finsternis.


Aus seinen Flügeln rauschen
Liebesworte
Gedichte Liebkosungen.

Er bewacht
deinen Weg


Lenk deinen Schritt
engelwärts.

Rose Ausländer

Garten im Winter

22. Dezember 2022

…und glaub ja nicht,

dass der Garten im Winter seine Ekstase verliert.

Er ist still.

Aber die Wurzeln sind aufrührerisch,

ganz tief da unten.

Rumi

Zwei Frauen im Austausch

21. Dezember 2022

Antwort an Christa Wolf

Die Sehnsucht
nach Gerechtigkeit
nimmt nicht ab
Aber die Hoffnung

Die Sehnsucht
nach Frieden
nicht
Aber die Hoffnung

Die Sehnsucht nach Sonne
nicht
täglich kann das Licht kommen
durchkommen

Das Licht ist immer da
eine Flugzeugfahrt reicht
zur Gewissheit

Aber die Liebe
der Tode und Auferstehungen fähig
wie wir selbst
und wie wir
der Schonung bedürftig

Hilde Domin

Im Vorübergehn

20. Dezember 2022

Von Herberge zu Herberge

Vergessenheit.

Der eigene Name

wird etwas Fremdes.

Deine Mutter

lebt nirgendwo,

ist längst dein Kind geworden,

das du nicht gebierst.

Und dass dich einer liebt,

dass man dich anders lieben kann,

als im Vorübergehn,

das nimmt dich wunder.

Hilde Domin

Dreigestirn

19. Dezember 2022

Um den Atemmond
namenlose erleuchtete Sterne

Unsere irdischen Sterne
Brot Wort und
Umarmung

Rose Ausländer

Ort des Treffens

18. Dezember 2022

Jenseits von richtig und falsch

liegt ein Ort.

Dort treffen wir uns.

Rumi

Das weiche Tier deines Körpers

17. Dezember 2022

Du musst nicht gut sein.

Du musst nicht auf deinen Knien

hundert Meilen durch die Wüste rutschen, bereuend.

Du musst nur das weiche Tier deines Körpers

lieben lassen, was es liebt.

Erzähl von deiner Verzweiflung,

ich erzähl dir von meiner.

Inzwischen dreht die Welt sich weiter.

In der Zwischenzeit bewegen sich die Sonne und die klaren Kristalle

des Regens über die Lande,

über Steppen und Bäume,

über Berge und Flüsse.

In der Zwischenzeit halten die Wildgänse, hoch in der klaren, blauen Luft,

wieder Kurs auf ihr Zuhause.

Wer immer du bist, egal wie einsam,

die Welt bietet sich deiner Vorstellung an,

sie ruft nach dir wie die Wildgänse, rau und aufregend,

und kündet wieder und wieder

von deinem Platz in der Familie der Dinge.        

Mary Oliver

Gegenwärtige Erwartung

16. Dezember 2022

 Wo du auch hingehst

mit deinen träumenden Füßen

sorgsam hingesetzt in dein gegenwärtiges Leben

seltsam beflügelt jedoch wie Merkurs Fersen

in einer ahnungsvollen Erwartung:

immer wieder werden sich riesige Blöcke von Luft

wie fügsame Herden bewegen lassen durch dich

und auf mich zukommen

alle Regen die je deine Wange treffen werden

kommen zu mir zurück

aufgelöst bist du in jedes Teilchen der Erde

mitgeteilt hast du dich allen schwebenden Wolken

und die Wälder der Blumen sprechen in deiner Sprache

nichts kann dich mehr trennen von meinem Herzen

mit jedem Sonnenstrahl sinkst du in mich

wie ein Same

über alle Wasser hinweg

bis zu den blätternden Sternen der Windrose

Friederike Mayröcker

Gefrorener Wasserfall

15. Dezember 2022

Reglos hängt er am Fels,

eisgraue Wurzeln ins Nichts getrieben,

manchmal ein Windgeläute,

gläsern.

Unsichtbar im Gestein:

gestauter Schwall

für die Wasserorgeln des Frühlings.

Christine Busta

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