Solidarität
5. April 2020
Ich beobachte ein bisschen die Sprache, die in der öffentlichen Kommunikation verwendet wird und muss mich doch sehr wundern. Das Wort „Solidarität“ zum Beispiel nehmen gerade Politiker (gab es mal Politikerinnen?) und Menschen in den Mund, die bisher gut verborgen haben, diesen Begriff überhaupt in ihrem Wortschatz zu führen. (Salopp: Ich wusste gar nicht, dass die das buchstabieren können!).
In mir entsteht das dringende Bedürfnis dieses Wort sofort auf Reha zu schicken, damit es sich von diesem klebrigen Virenbefall befreien und erholen kann.
Solidarität entsteht aus einer Haltung des freiwilligen Teilens eines Wertes heraus. Ich finde etwas – wie du – wichtig und ich bin freiwillig bereit, diese Werthaltung mit dir zu teilen und eventuell daraus entstehende persönliche Nachteile dafür in Kauf zu nehmen. Die Freiwilligkeit widerspricht nicht einer persönlichen Notwendigkeit aus dem je eigenen Wertekanon heraus eine Konsequenz zu ziehen.
Hochproblematisch wird es mit dem Einfordern von Solidarität. Reifliche Überlegung, ein Ringen um die eigenen Werte und die persönliche Haltung, eine klare Entscheidung, sind, so finde ich, verlässliche Begleiter von Solidarität.
Angst, Überangepasstheit, moralische Überlegenheitsgefühle sprechen eher von einem viralen Befall des Begriffes „Solidarität“. Das wäre ich dann ganz dringend für die Reha- Variante.
Wie könnte diese Reha aussehen: in einen blühenden Vogelkirschbaum gehängt, von der Frühlingssonne beschienen, vom Wind durchgeblasen, von Flügelschlag der vorbeifliegenden Vögel sanft bewegt, von einer jungen Frau entdeckt und gesehen, die den Fund ihrer Freundin aus der Ferne zeigt: Da, siehts du, da wo die Bäume ganz dicht stehen, das blüht ziemlich oben eine Vogelkirschbaum und da hängt was… sieht du das? Ah, ja, ja, jetzt sehe ich es. Da spazieren wir morgen hin und sehen uns da an….
In der Mondnacht, vom Sternbild der Kassiopeia zärtlich bewacht, sinkt die nach Kirschblüten duftende Solidarität sanft zu Boden, der herumstreunende Kater legt sich drauf, putzt seine Pfoten, den schnurrenden Leib und ruht, immer wieder träge eine Auge öffnend und wachsam bis in die hinterste Zelle, eine Weile darauf…. Dann….
So beginnt die Reha-Geschichte in meiner Vorstellung.
Und in all dieser Zeit kann dieses Wort nicht verwendet werden und diejenigen, die das momentan so gern in den Mund nehmen, sagen statt dessen, was der Sachverhalt ist: Tut, was wir euch sagen, haltet euch an die Regeln, die wir uns mit unserem Experten- und Krisenstab für euch ausgedacht haben. Wie wissen nämlich nicht genau, wie wir diese Situation unter Kontrolle bringen sollen. Wir versuchen jetzt, euch unter Kontrolle zu bringen, das gibt uns ein bisschen mehr das Gefühl, gute Krisenmanager zu sein, weil wir da gleich etwas machen, Entscheidungen treffen können. Und nicht abwarten und beobachten müssen und das Leben in seiner Größe und Komplexität, in seiner Unberechenbarkeit und Entfaltungsfähigkeit wahrnehmen müssen. Wir wissen wenig, aber an einem Ende können wir kotrollieren und wir wollen, dass ihr euch vor euch selber schützt, dass ihr die anderen vor euch schützt. Zärtlichkeit und Nähe, leibliche Begegnung und der Trost des lebendigen Körpers – das ist gefährlich. Vertrauen ist gefährlich.
Wenn ihr tut, was wir euch sagen, dann seid ihr……….. (es ist nicht da, es ist auf Reha!)
Gioconda Belli sagte: Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker.
Rehabilitationziel: die ausreichende Ladung und Sättigung des Begriffes „Solidarität“ mit Zärtlichkeit.